Jugendschach in England   -   Eine persönliche Geschichte


03.06.2019 von Claus Seyfried (aus dem Newsletter Württemberg).   Im vorigen Jahr hatte ich zu meiner großen Überraschung erfahren, dass auch ich Schachspieler in der Verwandtschaft habe. Und zwar das mittlere Kind des ältesten Sohnes meiner älteren Schwester, ein 11-jähriger Junge. Die fünfköpfige Familie, Vater, Mutter, zwei Jungs, ein Mädchen, lebt seit mehr als 10 Jahren in Oxford. Er will unbedingt mit dir spielen, hörte ich von meinem Neffen. Ok, versuchen wir's mal mit Lichess.org.

Bei der ersten Partie an einem Sonntagabend (sonst kaum Zeit für die schulgestressten englischen Kinder) war ich schockiert über die Fehler, während ich eine Woche später baff war über seine Fortschritte. In für mich leicht nachteiligen Mittelspielstellungen hatte er dann plötzlich keine Lust mehr und nach seinem großzügigen Remisangebot mussten wir aufhören. Sein älterer Bruder hat dann aber gepetzt, dass er mich gegen eine Engine spielen ließ. Na super, so wird das garaniert nichts. Wenn es also jemals dazu kommen sollte, dass ich den kleinen Engländer vielleicht einmal bei den Gibraltar Juniors betreuen könnte, ohne dass er Letzter wird, so musste ich mir was anderes einfallen lassen.

Bei einem Telefonat mit seinem Vater im April hatten wir schnell die letzte Maiwoche als einzigen Termin herausgefunden, an dem die Kinder Ferien haben, der Vater auch mal die ganze Woche nicht beruflich in London, New York oder sonstwo ist, und es mir auch passt. Außerdem hatte ich schon immer davon geträumt einmal mit dem eigenen Auto in England ständig auf der falschen Seite herumzufahren. Mietwagen machen mich dort vollkommen fertig, weil im Auto alles falsch rum montiert ist. Mangels weiterer Mitfahrer (ältere Schwester: keine Zeit, jüngere Schwester: Nein, mit dir fahr' ich nie!!) startete ich den Familienbesuch dann, in dem ich mich unmittelbar nach dem letzten Wochenende des B-Trainerkursus in Ruit am Montagmorgen in mein Auto setzte und nach Calais fuhr. Eine Woche Intensivtraining für den Großneffen und zwei Turniere zum Abschluss am Wochenende waren geplant.

Mit dem Training klappte es auch gut, aber intensiv? Na ja, ich musste lernen, dass die Aufmerksamkeitsspanne eines 11-Jährigen nicht unendlich ist. Nach zwei Stunden wurde es schwierig und nach drei Stunden war komplett Schluss. Dabei haben mir übrigens einige Dateien aus dem Material von Joachim Grieß vom gerade absolvierten B-Trainerkurs sehr geholfen, vor allem Taktiktraining und Endspiele.

Seine Schachgruppe nennt sich „Ojays” abgeleitet von Oxfordshire Junior Chess Squad. Allerdings muss man wissen, dass es in England kein starres Vereinssystem gibt, das mit dem deutschen vergleichbar ist. Selbst auf höchster Ebene in der 4NCL (= „Four Nations Chess League” für England, Schottland, Wales und Nordirland) sind die Zugangsregeln - zumindest im Vergleich zu unseren Bundesligen - recht locker. Bei den Kindern geht eigentlich alles von den Schulen aus. Also nicht diese zwei Welten „Schulschach - Vereinsschach” wie bei uns.

Am Samstag dann ein kleines U12-Turnier im Gemeindesaal einer kleinen Pfarrei im Zentrum Oxfords. Sechzehn Kinder spielten sechs Runden Schweizer System mit 10 Minuten Bedenkzeit bei 5 Sekunden Inkrement. Es nahmen vier Kinder ostasiatischer Herkunft teil, ein „Mittelasiate”, ein Junge afrikanischer Herkunft sowie zehn „Sonstige”. Der Afrikaner gewann das Turnier souverän. Obwohl man beim U12-Zuschauen meistens Nerven wie Drahtseile braucht, schaffte ich es alle Partien meines Schützlings mitzuschreiben. Viel Material fürs Training! Aber für mich das Verblüffendste: Kam es zu irgendeiner Reklamation, Unklarheit oder auch zum Partieende durch Matt oder Aufgabe, so blieben die Kinder wie festgeklebt am Stuhl sitzen mit exakt nach oben gestrecktem rechten Arm, bis der Turnierleiter die Sache geklärt hatte. Wäre das bei unseren Jugendlichen vorstellbar? Ja, da zeigt sich Jahrhunderte währende Übung der Engländer beim Schlangestehen.

Am Sonntag ging es dann zum „Megafinal” in einer sehr schönen großen Schulanlage in einer besseren Gegend am Rand von Oxford. Ein schmales Rinnsal namens Themse mit Badestrand und vielen Spaziergängern war nicht weit weg. Ebenfalls sechs Runden, aber 20 Minuten bei 10 Sekunden Inkrement. Deshalb, und auch weil sich die Gesamtturnierleiterin zwischen allen Runden sehr gerne reden hörte, dauerte es dieses Mal den ganzen Tag. In der Ausschreibung wird verlangt, dass für jeden Jugendlichen ein erwachsener Betreuer anwesend sein muss. Also kein Wunder, dass nicht Schach spielende Eltern froh sind, wenn ihnen diese Aufgabe abgenommen wird. Zumal alle Betreuer und Zuschauer während der Runde des Saales verwiesen werden, was sich alleine schon wegen des Platzmangels gebietet. Hier wurde in allen Jahrgängen von U7 bis U12 jeweils ein Turnier gespielt, sowie U13 - U18 zusammen in einer Gruppe.

Die Grafik ganz unten zeigt es: los geht es in den Schulen. Die Schul-Champions qualifizieren sich für die Megafinals. In den meisten Grafschaften gibt es mehrfach im Jahr ein Megafinal. Verpatzt also ein taleniertes Kind sein Turnier, so muss es nicht ein ganzes Jahr auf die nächste Chance warten! Ziemlich sinnvoll bei den Entwicklungsschüben in dieser Altersklasse, oder? Wer bei einem Megafinal 3½ Punkte macht, ist fürs Gigafinal qualifiziert. Mein Großneffe, bzw. seine Eltern können sich nun aussuchen, welches Gigafinal irgendwo in Südengland am besten passt. Wer auch beim Gigafinal positiv abschneidet, darf zum Terafinal. Das ist dann schon Four-Nations-weit. Gewonnen hat die U12 bei unserem Oxfordshire Megafinal übrigens ein indisches Mädchen.

Claus Seyfried



Einfach eine Fähre buchen, die man bequem erreichen kann. Kommt man viel früher an, so wird man gerne auch eine Fähre früher mitgenommen.
Der Tunnel ist viel teurer und macht weniger Spaß. Mal sehen, ob sie Diesel überhaupt noch reinlassen?




Der Eingang zum Anbau an der Kirche.




Guess who is my relative?




Sehr überschaubares Teilnehmerfeld in der Pfarrei.




In dieser Schule werden mehrere Megafinals gespielt.




Die ganze Schule war wunderbar ausgestattet.




Blick zur Turnhalle durch die Überwachnungskamera von der Rezeption.








Dieses Mädchen hat die U12 gewonnen.




























Und hier wird das ganze System erklärt mit Schoolfinals -> Megafinals -> Gigafinals -> Terafinal